Spitsbergen – gekommen, um zu bleiben?
Als der Flieger in Oslo vom Flugfeld abhebt, starre ich gebannt aus dem Fenster. Mein Blick schweift über die kleiner werdende Stadt unter mir. Ich betrachte das emsige Treiben der vielen Lichtpunkte am Boden. Autos, die auf den Straßen rund um die Metropole unterwegs sind. Schneebedeckte Berge, Felder und Seen, die in der einsetzenden Dämmerung friedlich glitzern.
Das trubelige Leben der Stadt kommt langsam zum Erliegen, die Menschen sind auf dem Weg in ihre warmen, hell erleuchteten Häuser – wohl wissend, dass am nächsten Morgen die Sonne wieder aufgeht und ein neuer Tag anbricht. Nicht so für mich! Vor mir liegen fünf Tage Dunkelheit. Rund 100 Stunden ohne natürliches Licht – ich bin auf dem Weg nach Spitsbergen. Auf dem Weg in die arktische Nacht nördlich des Polarkreises.
ANKUNFT AM ENDE DER WELT
Um zwei Uhr nachts landen wir auf dem Flughafen Longyearbyen. Der einzige Flieger um diese Zeit – ohnehin landen hier nicht mehr als zwei, drei Flieger pro Tag. Das Gepäckband in der kleinen Ankunftshalle dreht unaufhörlich und einsam seine Runden. Um mich herum: erwartungsvolle Gesichter. Männer und Frauen in Hightech-Funktionskleidung, die professionell aussehende Expeditionskisten vom Band hieven. Wissenschaftler? Oder überambitionierte Touristen, die hier in der Arktis ihren Traum vom Einsamkeit und dem letzten wahren Abenteuer verwirklichen? Neben mir steht Cathy, eine junge Engländerin, die im Flieger zufällig neben mir saß. Sie hat ihr Herz verloren, sagt sie. Erst an die Nordlichter und dann an einen Norweger, den sie während ihres Studienaufenthaltes in den letzten Monaten hier an der Universität von Longyearbyen kennengelernt hat. Sie ist Geo-Physikerin, hat auf Spitsbergen für ihre Abschlussarbeit geforscht und war gerade für zwei Monate auf Heimatbesuch in Liverpool. Nun ist sie zurück. Im Gepäck: Ganz viel Hoffnung, Vorfreude und jede Menge Zuversicht. Sie ist hier, um sich einen Job zu suchen, möchte mit ihrem Freund zusammenziehen und die nächsten Jahre auf Spitsbergen verbringen. Wie lange genau, das weiß sie noch nicht. Aber da geht es ihr nicht anders als den meisten Menschen, die hier leben. Keiner kommt, um zu bleiben. Für ein paar Jahre vielleicht, sagen sie. Am Ende aber, bleiben die meisten länger, als sie dachten…
Rund 2.100 Einwohner zählt die Hauptstadt Spitsbergens aktuell. Das Durchschnittsalter liegt bei knapp über 30. Sie kommen aus aller Welt. Über 40 unterschiedliche Nationalitäten leben und arbeiten in dem kleinen, funktionalen Städtchen, das früher vor allem Quartier für die Minenarbeiter war. Von den sieben Minen rund um Longyearbyen ist heute nur noch eine Betrieb. Eine weitere Mine wird von den russischen Nachbarn betrieben, weiter südlich in der Enklave Barentsburg. Mit rund 300 Bewohnern ist Barentsburg die zweitgrößte Siedlung auf Spitsbergen. Dann gibt es noch Svea, weniger eine richtige Siedlung als vielmehr einzelne Baracken, die rund um die dritte noch aktive Mine von Spitsbergen erbaut wurden. Seit der Kohleabbau keinen wirklichen Profit mehr abwirft, sind die Menschen auf Spitsbergen zunehmend vom Expeditions-Tourismus abhängig – mit seinem verlockenden Duft von Freiheit, Einsamkeit und arktischer Schönheit. Ein weiteres wichtiges Standbein ist die Wissenschaft, die in erster Linie Nordlicht- und Klima-Forschung betreibt und sich für nachhaltige Projekte einsetzt. Eines der spannendsten dieser Art ist der Svalbard Global Seed Vault, ein unterirdischer Tresor im Permafrostboden, in dem bis zu 4.5 Millionen unterschiedlichen Pflanzensamen eingefroren und dadurch für die Nachwelt erhalten bleiben. So unspektakulär der kleine Eingang oberhalb von Longyearbyen auch aussehen mag – das Innere dieses Tresors ist ein wahrer Schatz für die Menschheit.
NOCH 84 TAGE, 2 STUNDEN UND 22 MINUTEN…
Als am nächsten Morgen mein Wecker um 8:30 Uhr klingelt, erlebe ich, was es tatsächlich bedeutet, wenn die Sonne nicht aufgeht. Ich schiebe die Vorhänge in meinem Hotelzimmer zur Seite und blicke in totale Dunkelheit. Kein Dämmerlicht, kein blauer Himmel – es ist einfach nur finster. “Noch 84 Tage, 2 Stunden und 22 Minuten, bis die Sonne wieder aufgeht”, verrät mir der Infoscreen auf meinem Fernseher. Während in Hotels am Mittelmeer die Wettervorhersage und das Animationsprogramm für den Tag angekündigt wird, bietet unser Hotel seinen Gästen die 30 Minuten Vorschau für mögliche Nordlicht-Sichtungen. Willkommen in einer anderen Welt!
Nachdem sich meine Augen an die Schwärze gewöhnt haben, erkenne ich schemenhaft Berge hinter den Wohnhäusern vor meinem Fenster. Ich erinnere mich an Bilder von Longyearbyen im Frühjahr, die ich mir vor meiner Abreise angeschaut hatte: Schneebedeckte, imposante Gebirgszüge auf der einen, der stahlblaue Fjord mit seinen Gletschern auf der anderen Seite. Dieser Anblick wird mir verwehrt bleiben. Ich werde die andere, die “dunkle” Seite von Spitsbergen entdecken.
Bei dieser Entdeckungsreise helfen mir vor allem die Menschen, die ich in den kommenden vier Tagen kennenlerne. Da ist zum Beispiel Anne, Ende 50, die mit ihren vielen Lachfältchen um die Augen und den Dreadlocks auf dem Kopf pure Lebensfreude ausstrahlt. Mit einem verschmitzten Lächeln berichtet sie vom lokalen Frauentreff am Vorabend. Mit viel Wein und gutem Essen hatte sich eine Handvoll Frauen aus Longyearbyen zusammengefunden, um gemeinsam ihre Mechanik-Skills zu verbessern. “Weißt du Katharina, wenn ich alleine in den Bergen unterwegs bin, dann muss ich mir schließlich helfen können. Dazu gehört, dass ich mein Schneemobil selbst reparieren kann. Wir sind auf uns allein gestellt. Deshalb machen wir auch regelmäßig Schießtrainings. Denn im Ernstfall müssen wir uns gegen einen Bären verteidigen!” sagt sie voller Überzeugung. Spricht sie von “Bären”, dann meint Anne Eisbären. Manche berichten von 1.000, andere sogar von 3.000, die auf der Insel leben. Unzählige Geschichten gibt es über sie – beispielsweise von dem einen, der vor drei Jahren bis in die Stadt kam und plötzlich vor dem Radisson Blu Hotel (unserem Hotel!) stand. Damals musste das Hotelpersonal schnell die automatische Schiebetür ausschalten, damit der Bär nicht seelenruhig durch die Eingangstür hereinspazieren kann. Klingt lustig, ist es aber nicht wirklich. Denn die Eisbären sind eine reale Bedrohung.
Nähert sich ein Eisbär der Stadt, werden die Bewohner sofort alarmiert. Ein Veterinärmediziner kommt, um das Tier zu betäuben. Dann wird es mit einem Hubschrauber an die Nord- oder Ostküste gebracht und dort weit weg von allen menschlichen Siedlungen ausgesetzt. So gefährlich die Tiere sein können, selbstverständlich werden sie geschützt. Es ist verboten einen Eisbären zu töten, es sei denn man handelt in Notwehr. Jeder, der die Stadt verlässt, trägt eine Waffe bei sich. Sie wird allerdings nur extrem selten eingesetzt – bei einem Angriff versuchen die Menschen erst einmal, das Tier mit Schreckschusspistole und Leuchtfeuer zu vertreiben. Für die Spitsbergener ist dies alles selbstverständlich und Alltag. Ich habe dennoch ein mulmiges Gefühl, als wir in den kommenden Tagen unterwegs sind in den Tälern rund um Longyearbyen – mit Hundeschlitten, Pistenraupe und zu Fuß durch die Polarnacht. Einen bewaffneten Guide haben wir stets dabei – und die leise Hoffnung, vielleicht doch noch einen Eisbären (mit ausreichend Abstand) zu sehen…
LEBEN AM LIMIT
Bei einem dieser Ausflüge lerne ich Christina kennen. Sie ist Anfang 20 und lebt gemeinsam mit ihrem Freund und neun Huskys in einer Hütte außerhalb von Longyearbyen. Ohne Strom und fließend Wasser – und das bei Temperaturen von bis zu minus 25 Grad im Winter. Es sei eine sehr bewusste Entscheidung gewesen, sagt sie. Ein Lebensmodell, bei dem sie auf alles verzichtet, was nicht zwingend zum Überleben notwendig ist. Um zu duschen, verrät sie, muss sie erst einmal ausreichend Holz besorgen. Der Kessel, um das Duschwasser zu erhitzen, wird bereits am Vortag aufgesetzt. “Wenn die Vorbereitung insgesamt knapp eine Woche dauern, dann überlegst du zwei Mal, wie wichtig das Duschen wirklich ist, oder ob eine Katzenwäsche nicht ausreicht.” Christina wirkt unglaublich zufrieden und in sich ruhend, als sie das sagt. Sie arbeitet nebenbei auf einem Boot, das Ausflüge ins russische Barentsburg unternimmt. Sie mag diesen Job, sagt sie, aber sie wird zukünftig wieder weniger arbeiten, denn ihr besonderer Lebensstil braucht Zeit. Genau deswegen ist sie ja überhaupt hier – um der Gesellschaft, die immer schneller und immer leistungsorientierter agiert, ein alternatives Lebensmodell entgegenzusetzen. Ich glaube ihr sofort, dass sie hier auf Spitsbergen sehr glücklich ist. Auf unserer Fahrt nach Barentsburg denke ich lange über ihre Worte nach.
WINTERSTILLE
Es ist nicht etwa so, als würden auf Spitsbergen ausschließlich Aussteiger leben, die die Einsamkeit suchen. Viele gehen ganz regulär ihrer täglichen Arbeit nach, haben Familie, Freunde, gehen aus Essen und Trinken, spielen Fußball oder unternehmen gemeinsame Ausflüge in die Natur. Die Einwohner von Longyearbyen sprechen häufig von einem Lernprozess in Bezug auf das Leben im hohen Norden und ihrer Entscheidung für Spitsbergen. Denn natürlich beeinflusst ein Ort, an dem rund 5 Monate im Jahr die Sonne niemals untergeht und über 4 Monate Polarnacht ist, das Wesen seiner Bewohner. Dabei ist es weniger die Dunkelheit, die vielen zu schaffen macht – es ist vielmehr die Eile der Sommermonate. Licht ist kostbar, die Tage werden voll ausgenutzt. Alle sind aktiv, umtriebig, unruhig. Der Wechsel der Jahreszeiten mit Tag und Nacht, wie wir es kennen, ist für viele die schwerste Zeit, denn die Umstellung ist zu kurzfristig, der Rhythmus ist zu unbeständig. Erst mit dem Winter und den Polarnächten kommen die Spitsbergener ein wenig zu Ruhe. Nehmen die Hast aus den Tagen und lassen zu, dass die Uhren sich langsamer drehen.
All das spüre ich während meiner Zeit in Spitsbergen. Ich befinde mich in einer Art Schwebezustand. Zeit verliert an Bedeutung. Die Natur um mich herum hat immensen Einfluss auf mich, obwohl ich sie nur schemenhaft wahrnehme. Ich nehme die raue, kalte Welt um mich herum nicht nur sehr bewusst in mir auf, ich nehme sie an. Ich fühle mich frei und zufrieden und verstehe, warum die Menschen, die nach Spitsbergen kommen, sich nach einiger Zeit schwer tun, diesen Ort wieder zu verlassen. Man kann hier nicht auf Dauer (über-)leben, aber man kann hier sehr glücklich sein. In einer Gemeinschaft, die aufeinander Acht gibt und sich gleichzeitig sehr viel Freiraum lässt. Ein faszinierender Ort, ein besonderer Ort…
Am letzten Tag meines Aufenthaltes offenbart Spitsbergen noch einmal seine ganz besondere Magie. Es ist der einzige Ort auf der Welt, an dem man Nordlichter nicht nur in der Nacht, sondern auch am Tag zu sehen bekommt. Und ich sehe sie. Beim Blick in den Himmel auf die tanzenden Lichter, die in einem Moment strahlen, im nächsten schon wieder verschwunden sind – in diesem Moment hat mich Spitsbergen schlussendlich verzaubert. Hier leben, in der Stille der Nacht, die Natur so nah, so präsent, so intensiv um mich herum? Ja, ich glaube, das wäre wirklich schön. Nicht für immer, aber für eine Weile…
Diese Reise erfolgte in Kooperation mit Visit Norway und Hurtigruten. Ich bedanke mich herzlich für die Möglichkeit, diesen spektakulären Ort besuchen zu dürfen. Der Artikel beruht auf persönlichen Eindrücken und Erfahrungen und spiegelt uneingeschränkt die Meinung der Autorin wieder.
Mario
schrieb amHallo Katharina,
im Winter sieht es dort anders aus. Habt Ihr den auch das Bier aus der nördlichsten Brauerei der Welt probiert? Wir waren im Sommer zum Trekking dort und und haben dann mit dem Schiff noch Spitzbergen umrundet. Also Surf mal bei uns vorbei.
Gruß Mario
P.S. Habe ich richtig gelesen das ihr auch im Bötzow Kiez wohnt?
Katharina
schrieb amHey Mario, klar haben wir auch das Spitsbergener Bier probier – äußerst lecker! Ha ha! Werd mir auf jeden Fall mal den Sommerbericht anschauen. Ich würde ja gerne noch einmal hin im Frühjahr, wenn noch Schnee liegt, aber die Sonne auch wieder aufgeht…
Und ja, wir leben im Bötzow-Kiez, wenn wir in Berlin sind. Du auch?
LG, K&H
Mario
schrieb amHallo ihr Beiden,
ja ich bin in der Pasteurstraße wohnhaft… 🙂
Gruß Mario
Katharina
schrieb amHa ha… Mega, ja dann müssen wir aber unbedingt mal ein Gipfeltreffen im Kiez anvisieren und Tourentipps austauschen!
Andreas
schrieb amHallo aus dem Kiez,
habe heute euren Bericht über Svalbard gelesen. Bin durch irgendeinen Link auf Fb darauf gestoßen. Sehr interessant und einfühlsam geschrieben. Bin selbst schon viele Jahre in Norwegen unterwegs und habe dieses Jahr u.a. mehrere Monate auf der Hurtigrute gearbeitet. Nach Svalbard habe ich es allerdings noch nicht geschafft. Also falls mal Interesse bestehen sollte, auch mit den anderen Nachbarn aus dem Kiez zusammen,über den Hohen Norden zu fachsimpeln, wäre ich gern dabei.
Ich bin Nähe nördl. Ende der Bötzowstr. im Prenzl Berg wohnhaft.
Beste hilsener og en god advent helg
Andreas