Samaras Secret!
Während Moskau die offizielle und Sankt Petersburg die ehemalige Hauptstadt Russlands ist, gilt Samara als die „geheime“ Hauptstadt! Dabei geht es an der Wolga recht gemütlich und fröhlich zu!
Als er eine russische Freundin aus Moskau fragte, was es in Samara zu sehen gibt, sagte diese: „Nichego! Nichts! Ich kenne dort niemand, ich war noch nie da und ich will auch nicht dorthin!“ Dabei ist längst nicht alles mehr so streng geheim in der Stadt an der Wolga, wie Jans zweiter Gastbeitrag beweist…
Achtung Geheimsprache!
Die deutsche Taxi-Innung wird mich steinigen, aber in Samara setzen Matthias und ich 100% auf Uber! Aus rein funktionalen Gründen: Wir hatten vorab den Hinweis bekommen, dass in der „geheimen Stadt“ Englisch eine Geheimsprache ist, die Taxifahrer so gut wie nie verstehen. Selbst Straßennamen und Ortsangaben in lateinischen Schriftzeichen sind für viele eher kryptisch. Aber dank Uber bestimmt Matthias per Mobiltelefon, wann wir wo hin wollen. So zuerst vom Flughafen Kurumotsch zu unserem Appartement in die Innenstadt. Auf der knapp einstündigen Fahrt kommen wir vorbei an Feldern, Wäldern und bunten Holzsiedlungen. Sieht alles recht gemütlich aus. Runtergekommen, aber gemütlich. Ganz anders als die glanzvollen Metropolen Moskau und St. Petersburg. Das ist also Russland. So richtig.
Ausländer willkommen!
Unser Appartement befindet sich am Rand des Zentrums im obersten Stock eines Plattenbaus. Direkt an der Alabinskaya, der zweiten bzw. der vorletzten von insgesamt nur zehn U-Bahn-Stationen. Für eine Millionenstadt, die größer als Köln ist, sind das wahrlich nicht viele. Das städtische Prestigeobjekt der 1980er Jahre war im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlag ins Wasser, da der Grundwasserspiegel im Sandboden des Wolgaufers schlichtweg zu hoch ist. Unser Gastgeber Artem ist überaus hilfsbereit und freundlich. Fast schon überschwänglich. „I like foreigners“, verrät er. „because there are not many in Samara.“ Kein Wunder also, dass Stalin 1941 angesichts der vorrückenden Wehrmacht im Westen des Landes den Ort zur geheimen Hauptstadt Russlands erklärte.
Sojus gegen Apollo!
Unser Gastgeber empfiehlt uns einen Besuch im Cosmos Museum. Eine alte Sojus-Rakete steht quasi fußläufig um die Ecke. Da brauchen wir noch nicht mal einen Uber! Irgendwie ist es zutiefst beeindruckend, wie der Alltag der Kosmonauten ausgesehen haben muss. Eng, karg, ohne Komfort – genauso wie das Museum der russischen Raumfahrtsgeschichte selbst. Aber es lohnt dennoch. Mir fällt ein, dass mir ein russischer Ingenieur einmal vor Jahren gesagt hat: „Unsere Technik ist die Beste. Es sind viel weniger Sojus-Raketen abgestürzt, als Apollo und Spaceshuttle zusammen.“ Selbst nach dem Fehlstart einer Sojus im Oktober 2018 behält er weiter Recht. Zumal selbst Astro-Alex auf diese Rakete schwört. Bei der Statistik von Tupolew- (auch aus Samara) versus Boeing-Crashs geht der Punkt übrigens ebenfalls an Russland.
Life is a beach!
Vom Museum aus geht es schnurstracks zum Fluss. Nein, kein Fluss! Das ist ein Strom. Rhein, Donau und Elbe können gegen die Wolga einpacken. Am Lad’ya Beach und anderen Stränden entlang der kilometerlangen Uferpromenade tummeln sich die Einwohner, spielen Beach-Tennis oder –Volleyball, sitzen und plaudern zusammen und gefühlt alle 100 Meter zupft jemand umringt von einem Dutzend Zuhörer auf der Gitarre. Echt gemütlich. Überhaupt nichts Beängstigendes oder Bedrohliches. Was Matthias und mir allerdings auffällt ist, dass wir als Ausländer herausstechen. Dabei ist unsere Kleidung wirklich nicht auffällig. Dennoch ernten wir wirklich sehr viele Blicke – und viele Lächeln. Ob der Taxifahrer oder unser Gastgeber gepetzt hat, dass zwei Ausländer in der Stadt sind?
Direkt neben dem Lad’ya Strand liegt das Lad’ya Freizeitzentrum. In dem wenig einladenden ehemaligen Industriespeicherkomplex sind heute Restaurants, Bars, eine Billardhalle Klapstoß (heißt auf Russisch tatsächlich so), ein Bowling-Zentrum und der obligaorische Table-Dance-Club Red Hall untergebracht.
Für ein Zhiguli Bier zu umgerechnet €1,80 für 0,5 Liter auf der Terrasse der Bar Veranda reicht die Zeit noch, fürs Dinner haben wir telefonisch umständlich im Tri Olenya (Drei Hirsche) reserviert. Blöd ist, dass es in Samara drei davon gibt und unser Uberfahrer noch nicht mal eins davon findet. Matthias lotst ihn dank seiner App zum richtigen Tri Olenya Na Moskovskom Shosse (auf der Moskauer Chaussee). Wieder einmal gibt es nur eine einzige Bedienung, die etwas Englisch spricht – und wir ziehen die Blicke der anderen Gäste auf uns. Das Essen ist gut und günstig. Und das Zhiguli Bier kostet hier sogar nur €1,20. Unseren obligatorischen Absacker wollen wir in der Skybar Van Gogh trinken. Die hat leider genauso geschlossen, wie der Klub Zvezda direkt daneben. So weichen wir eins weiter auf die Dacha (immerhin „by Van Gogh“) aus, wo entspannte und fröhliche Samarer essen, trinken und zu Chartmusik tanzen. Preis für ein Zhiguli hier €1,50.
Bier und Klosterfrau Melissengeist!
Am nächsten Morgen begrüßt uns ein blauer Himmel und Sonnenschein. Perfektes Wetter, um ohne Uber an der Strandpromenade entlang in die Altstadt zu spazieren, wo wir frühstücken wollen. Vorbei am Restaurantschiff Skryabin und der Siegessäule, die in der Luft- und Raumfahrtstadt natürlich durch einen fliegenden Menschen symbolisiert wird. Am „singenden Brunnen“ wird unser Riverwalk unterbrochen, da die Zhiguli Brauerei das Ufer versperrt. Dadurch können wir uns auf das Iverski Nonnenkloster auf der anderen Straßenseite konzentrieren. Das Konvent sollte eigentlich geöffnet und zu besichtigen sein, heute allerdings nicht. Auch Nonnen brauchen mal ihre Ruhe.
Nichts zu sehen!
Hinter der Brauerei liegt der Pier für die Fähren. Brücken über die Wolga gibt es im gesamten Stadtgebiet nicht. Auf meine Frage, was es denn auf der anderen Seite des Stroms zu sehen gibt, antwortet mir eine ältere Dame barsch „Nichego! Nothing!“ Das Beste an der anderen Seite sei die Fähre hierüber zum Pier. Das ist auch nicht weiter tragisch, denn Matthias und ich hatten immer noch kein Frühstück. Und der Spaziergang von unserem Appartement bis an den Rand der Altstadt hat insgesamt doch über eine Stunde gedauert. Hungrig schleppen wir uns den Hügel hinauf und vorbei am Gorki Theater, das nach dem berühmten Journalisten der Stadt benannt wurde, der Philharmonie sowie der Kinderkunstgalerie. Frühstückslokale: Fehlanzeige! Zwar stoßen wir auf ein sympathisches Lokal namens Balkan Grill, in dem gleich zwei Bedienungen uns auf Englisch begrüßen, aber Cevapcici und Raznjici sind jetzt nicht die russischen Frühstücksspezialitäten, die uns anmachen. Wir reservieren aber dort schon mal einen Tisch fürs Abendessen.
Die Altstadt wirkt wie ausgestorben. Kaum Menschen auf der Straße. Wahrscheinlich alle bei der Arbeit. Oder in geheimer Mission unterwegs. Mein Fotograf macht den Witz: „Ich kann ja später mit Fotoshop ein paar Leute einbauen, damit es lebhafter aussieht.“ Die Mägen hängen uns in den Kniekehlen, als wir in die Ulitsa Kuybysheva einbiegen. Kuybyshev war während Sowjetzeiten der Name Samaras. In der UdSSR war die Stadt für westliche Besucher wegen der geheimen Hochtechnologie Sperrgebiet. Von Raketentechnik bis zum Lada Zhiguli (richtig, genau wie das Bier) a.k.a Lada Nova (Marketingname für den Export) oder WAS2101 (heute als Oldtimer mit einem Wert von über 10.000 Euro) sollte nichts dem imperialistischen Staatsfeind in die Hände fallen.
Unser ursprüngliches Frühstücksziel, das Benjamin Cafe, ist ein American Diner – und hat noch zu. Irgendwie scheint in Samara ziemlich viel zu zu sein. Oder vielleicht ist doch alles immer noch geheime Kommandosache? Immerhin sieht das Cafe Coffee Cake gleich gegenüber recht freundlich aus. Und hat eine junge Bedienung unter 20, die zur Abwechslung mal richtig gut Englisch spricht. Wir ordern direkt mal die doppelte Portion an Sandwiches, Ei und Blini-Pfannkuchen.
Stalins Geheimnis!
Die Fußgängerzone und Einkaufsstraße Leningradskaya Ulitsa ist ebenso verwaist, wie die ganze Altstadt. Irgendwie unheimlich und doch hübsch. Für Fotograf Matthias sind Gebäude mit historischer Bausubstanz aus dem 19. Jahrhundert sowie die verzierten Holzhäuser jedenfalls ein Fest. Auch wenn wieder einmal in Russland die leidigen Oberleitungen Striche durchs Bild ziehen. Wir gehen in eine der Shopping-Arkaden, wo das Interieur nicht ganz so frisch ist. Ich kaufe einen Spielzeug-Polizei-Lada-Zhiguli als Andenken, Matthias braucht einen Fön. Wieder schlägt die Sprachbarriere zu: Die Verkäuferin sucht im Laden hektisch nach einer Steckdose, um Matthias zu beweisen, dass der Fön Made in China wirklich föhnt und funktioniert. Dabei will Matthias einfach nur den Fön. Karton plus Verpackung sollen da bleiben, damit er die nicht mitschleppen muss. Nach ein paar Versuchen ist dank Zeichensprache das Missverständnis aufgelöst.
Ab der Ulitsa Samarskaya sieht es nicht mehr ganz so hübsch aus. Beschädigte Fassaden, wilde Müllkippen und heruntergekommene Hinterhöfe säumen hier den Straßenrand. Also wieder zurück zur Ulitsa Frunze, wo Stalins Bunker heute der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Neun Stockwerke tief geht es hier geheimnisvoll in die Erde hinunter. Aber was sind das denn für ungewöhnliche Öffnungszeiten? 11 bis 15 Uhr? Mit einer Mittagspause von 13 bis 14 Uhr? Tja, da haben wir Pech, weil zu spät. Stalins privater Bunker wird dieses Mal für uns ein Geheimnis bleiben.
Es bleibt also Zeit, in der bis zur Oktoberrevolution 1917 traditionellen Kaufmannsstadt die repräsentativen Glaubenshäuser in Form der Römisch-Katholischen Kirche und des Tempels des Heiligen St. Georgs zu besichtigen. Juchu, beide haben geöffnet! Ganz in der Nähe stoßen wir wieder auf den Balkan Grill. Unsere Steaks sind gut und preislich zwar verhältnismäßig günstig, aber wenn das Zhiguli (das Bier; nicht das Auto!) hier € 2,00 kostet – also teurer, als an der exklusiven Strandpromenade – dann sind wir hier wohl in einer Touristenfalle gelandet!
Hier tanzt der Bär!
Weiter geht es zum Kuybyshev-Platz, der mit 17,4 Hektar nach dem Berliner Alexanderplatz und dem Warschauer Paradeplatz der drittgrößte in Europa ist. 147.000 Menschen könnten diesen Platz vor Walerian Wladimirowitschs Augen ausfüllen. Im Hintergrund der Oper sind heute bei einem Open-Air-Konzert eines Popsternchens gerade mal 3.000 Leute vor Ort. Es fühlt sich also genauso gespenstisch leer an, wie tagsüber in der Altstadt. Wo sind die Samarer nur alle? Am Rande des Konzerts treffe ich Sergei auf eine Zigarette. Der Inbegriff eines russischen Bärs: groß, mächtig und einfach zum Knuddeln! Der freundliche Bär ist Forscher an der Universität Samara und spricht ausnahmsweise mal fließend Englisch. Immer, wenn er keine Antwort auf unsere Fragen weiß, sagt er: „It’s secret.“ Wobei sich sein englisch ausgesprochenes secret so anhört, wie das deutsche Wort Sekret. Kann auch Absicht gewesen sein.
Mit dem Bären ziehen wir später weiter durch Samaras Nachtleben. Start ist im Podval, einem Kellerclub. Der hat zwar nicht zu, aber hier spielt gerade eine Gothik-Metal-Band. Also weichen wir auf die Karaoke-Bar im Podval aus und bleiben an der Theke nicht lange alleine. Der Bär erklärt uns, warum wir ständig als Ausländer erkannt werden: Es sei unsere Haltung, unsere Bewegungen, unser Gang. Der sei so anders, als in Samara. Und die Samarer sind neugierig. Was machen zwei Deutsche ausgerechnet hier? Sergei übersetzt geduldig. Ich werde an einen Tisch von Stammgästen eingeladen, die alle Ende 20 sind. Sergei raunt mir zu: „They are police.“ Die Runde besteht tatsächlich aus Staatsanwält*innen und Kommissar*innen, die mir Shots und Zhigulis (hier für nur €1,00) spendieren. Ich revanchiere mich und singe mit Staatsanwalt Nikita im Duett für die ganze Bar „Moskau“ von Rammstein feat. Tatu – Nikita macht den russischen Part, ich imitiere Till Lindemann. Obwohl ich zwar ein lauter, aber kein guter Sänger bin, werden wir mit Standing Ovations gefeiert. Diverse Shots inklusive.
Weiter geht es ins Harat’s. Der Laden ist proppenvoll. Wieder verrät uns unsere Haltung als Fremde. Eine blonde Frau um die 30 namens Natasha lädt mich zum Gin-Tonic ein. Also, so viele Einladungen an einem einzigen Abend hatte ich schon lange nicht mehr; von russischen Frauen noch nie. Auch hier werden wir drei schnell in eine Gruppe integriert, die bis zum Sonnenaufgang erzählt, tanzt und feiert. Zum Absacker ziehen wir mit einem Pulk von zehn Personen um in die Megapolisbar People’s, die 24/7 (!!!) geöffnet hat. Matthias isst zum Frühstück Steak, ich spendiere Natasha einen Gin-Tonic. Leider erinnern an diese Nacht nur ein einziges Foto sowie Sergeis Schlüsselanhänger, den er mir zum Abschied schenkt. Dann ist es auch gut. Nach wenigen Stunden Schlaf im Appartement wartet unten schon ein Uber und bringt uns zum Flughafen Kurumotsch.
Bis zum nächsten Mal, Mütterchen Russland!