White out – das Eismeer von Kemi
Der Boden unter mir vibriert leise, aber stetig. Die Motoren brummen aus einer tiefen, metallischen Kehle. Kein Vogelgezwitscher, kein menschlicher Laut dringt an mein Ohr. Nur das Schiff scheint zu leben, es wartet, in Lauerstellung…
Ich stehe an Deck der Sampo, die Sonne blendet mich. Kein Wunder, schließlich werden ihre Strahlen abermillionen mal reflektiert von den winzigen Kristallen in der Luft um mich herum und der unendlichen weißen Eisschicht, die sich zu meinen Füßen in alle Himmelsrichtungen erstreckt. Wir sind eingeschlossen vom arktischen Winter – scheinbar.
Dann ein Ächzen und Knarzen. Schwerfällig setzt sich die Sampo in Bewegung. Ich höre ein lauter werdendes Rauschen in meinen Ohren. Ist es das Adrenalin, das durch meine Adern schießt – oder ist es der Pohjanlahti, der Bottnische Meerbusen tief unter uns, ein Ausläufer der Ostsee zwischen Finnland und Schweden, der sich laut und bedrohlich zu Wort meldet?
Die Geräusche schwellen an, das Knarzen wird zu einem bedrohlichen Gekreische, das Schiff kämpft, schreit und schiebt sich Meter für Meter auf die scheinbar undurchdringbare Eisdecke – um dann mit einem lauten Getöse den Boden unter uns aufzubrechen. Eisschollen tauchen weg, stoßen auseinander, winden und drehen sich, bevor sie von dem kolossalen Eisbrecher auseinandergeschoben werden. So bahnen wir uns unseren Weg für 20 oder 30 Meter… bis wir scheinbar steckenbleiben. Volle Kraft zurück! Die Sampo zieht sich aus der eisigen Gefahrenzone – nur um nach wenigen Metern wieder mit voller Power nach Vorne zu drängen, sich erneut krachend auf das Eis zu werfen und dieses endgültig zu bezwingen. Es ist ein Kampf der Titanen. Ein tonnenschweres Frachtschiff gegen die Gewalt des eisigen finnischen Winters auf hoher See…
Die mächtige Sampo
Der Begriff Sampo geht zurück auf den alten finnischen Sagen-Epos Kalevala und beschreibt ein Gerät, das seinem Besitzer Zauberkräfte verleiht – im weiteren Sinne wird Sampo dabei als eine Art (eiserne) Stütze des Himmelsgewölbes gedeutet, markiert durch den Polarstern. Der arktischen Eisbrecher auf dem ich nun stehe, trägt durchaus zu Recht diesen mystischen Namen, erscheint er mir doch wie ein Zauberding aus einer anderen Welt. In der Theorie verstehe ich sehr wohl das physikalische Prinzip von Auftrieb und Verdrängung – aber mal ehrlich: Da ist man an Bord eines Giganten, in der Tiefe das dunkle Meer, darüber meterdickes Eis – und dann pressen 500 Tonnen Stahl darauf, um eben dieses Eis zu brechen… Hier setzt mein Verständnis aus und es erscheint mir wie ein Wunder, dass wir diesen Kampf gegen die Naturgewalten gewinnen sollen.
Kapitän Petter Tähtinen beruhigt mich. Seit den 60er Jahren ist die Sampo nun schon unterwegs auf dem Eismeer zwischen Schweden und Finnland. Rund 25 Jahre lang ebnete sie Handelsschiffen den Weg durch die gefrorenen Gewässer vor der Küste und erhielt damit den Handel im Hafen von Kemi auch in den frostigen Wintermonaten zwischen Dezember und Mai aufrecht. Heute übernehmen modernere Eisbrecher diesen Job – die Sampo aber bleibt dem Meer dennoch erhalten, als Touristenattraktion, ein Liebling von Einheimischen und Besuchern gleichermaßen. Ein Kreuzfahrtschiff der anderen Art.
Der Tag, an dem ich ins Polarmeer fiel
Zurück an Deck: Nach einer Weile gewöhne ich mich an das Geräusch von brechendem Eis. Das tiefe Grollen, mit dem die Eisschollen sich übereinander schieben, bevor sie dann auseinander stoßen, seitlich an der Sampo vorbei tauchen und sich hinter uns in der Fahrrinne wieder sammeln und das Meer erneut verschließen, verschmilzt zu einem gleichmäßigen Rhythmus – eine Art Melodie, die mich durch den Tag treibt. Die Sonne scheint weiterhin grell und beinahe anklagend aus einem stahlblauen Himmel auf uns Passagiere an Bord hinab – wir sind Eindringlinge in dieser perfekten, einsamen Eis-Welt. Wie müssen sich die Seemänner in vergangenen Zeiten gefühlt haben? Was für uns heute ein Vergnügen, ein Abenteuer, ein Ausflug, das war im letzten Jahrhundert noch eine massive Bedrohung. Nein, ich werde jetzt nicht die Titanic heraufbeschwören – aber ich habe heute erlebt, wie massiv Packeis sein kann, das durch seine Dichte härter ist als reine Diamanten. Bei einer Kollision schlitzt ein scharfkantiger Eisblock den Rumpf eines Schiffes auf, als wäre es aus Papier. Nicht zuletzt deshalb ist die Außenschicht eines Eisbrechers mehr als drei Mal dicker als die eines normalen Frachtschiffes. Ich schaudere, bei dem Gedanken an die wenigen Zentimeter Stahl, die mich vom dem eiskalten Wasser um uns herum trennen. In diesem Moment stoppen die Motoren. Von einer Sekunde auf die andere wird es Still. Eisesstill.
Leitern werden hinab gelassen, Passagiere gehen von Bord. Kleine, menschliche Punkte verteilen sich in Windeseile auf der Eisfläche rund um das Schiff. Ein Schneemobil steht einsam und verlassen wenige hundert Meter entfernt und wartet auf seinen Fahrer. Das Schauspiel vor meinen Augen erscheint mir vollkommen surreal. Zum ersten Mal nehme ich wahr, wie viele Passagiere mit mir an Bord waren. Touristen, vor allem aus Asien, laufen hektisch mit ihren Kameras Steuerbord und Backbord entlang der Sampo. Crewmitglieder rufen sie zurück, wenn sie sich zu nah der Abbruchkante des Eises nähern. Ein Schritt zu weit, das Eis bricht – und binnen weniger Sekunden schwimmt die ahnungslose Landratte im Eismeer.
Ich werde unter Deck gerufen. Es riecht nach Feuchtigkeit und Gummi, ein aufgeregtes, erwartungsvollen Treiben umgibt mich. Jacke aus, Schuhe aus, Mütze absetzen. Binnen Sekunden stecke ich in einem dicken Neoprenanzug. Ganzkörper, versteht sich. Ich komme mir vor wie ein fleischgewordener Teletubby – signalrot und beinahe bewegungsunfähig. Henryk kichert, als er mich sieht. Unbeholfen kämpfe ich mich über eine steile Treppe zurück an Deck, um dann über die Brücke hinab auf das offene Eis zu watscheln. Der Anblick, der sich mir in der schmalen Fahrrinne bietet, die die Sampo eben noch für uns aufgebrochen hat, ist absurd: Passagiere schwimmen im offenen Meer! In diesem Moment strauchele ich, stolpere und gleite eher ungewollt selbst hinab in das dunkle, tiefe Wasser… und beginne zu schweben! Ein einzigartiges Gefühl. Vollkommen unkontrolliert paddele ich auf dem Rücken liegend mit Armen und Beinen und treibe so eine ganze Weile auf kleinen Wellen durch den eben noch zugefrorenen Bottnischen Golf. Ich bin tatsächlich ins Polarmeer gefallen!
Die Ewigkeit des Eises
Stunden sind vergangen, seit wir den Hafen von Kemi verlassen haben. Wir haben uns viele hundert Meter durch das Eis gearbeitet, es aufgebrochen, es bezwungen. Wir sind über das Eis gewandert und schließlich im eiskalten Meer geschwommen. Jetzt ist es an der Zeit, umzukehren. Ich stehe am Heck der Sampo, blicke auf die Fahrrinne hinter uns. Ich sehe dunkles, eiskaltes Wasser, das aus der Tiefe hochgewirbelt wird – und dann schließt sich das Eis wieder. Nichts bleibt, außer der Stille … und Eis. Ewiges Eis.
Wer selbst einmal einen Tag auf einem Eisbrecher verbringen will, kann dies zwischen Mitte Dezember und Ende April täglich erleben. Die Sampo liegt im Hafen von Kemi in Finnisch-Lappland und ist mit dem Flieger ab Helsinki gut erreichbar. Wir wurden auf dieses atemberaubende Abenteuer vom Tourismusverband Finnland und der Region Kemi eingeladen und bedanken uns für diese einmalige Gelegenheit. Mehr Informationen unter www.visitfinland.com