Keanu, geh weg von die Mauer – unterwegs im Harz
Stadtflucht – diese Bezeichnung trifft es wohl ganz gut, wenn Henryk und ich uns vor jedem Wochenende die Frage stellen, wohin unsere nächste „Expedition“ OUT OF OFFICE gehen soll. Oberstes Gebot: Weg von den Hipstern und den Food Markets in Kreuzberg. Weg vom schnodderigen Gezeter unserer Taxi und Bus fahrenden Freunde im Berliner Straßenverkehr. Weit weg von den Kevins und Chantals am Alex, die ihren mit Primark Tüten bepackten Eltern quengelnd hinterher laufen.
Wir wollen statt dessen Ruhe, Einsamkeit, Natur. Durchmischt von einer guten Portion Bewegung und sportlicher Herausforderung bei frischer Luft und Sonnenschein. Das alles – und noch viel mehr – erwartete uns zuletzt im Harz als es hieß: Auf zum Brocken. Oder auch… auf zum Blocksberg!
Auf den Spuren von Heinrich Heine
Zugegeben, auch uns fällt es schwer: Samstagmorgen, 6:00 Uhr – Aufstehen, eine schnelle Dusche, Proviant packen und ab auf die Autobahn. Rund drei Stunden später schnüren wir noch etwas müde am Wanderparkplatz von Ilsenburg emsig unsere Stiefelchen, schultern den Rucksack und mischen uns sogleich unter die illustre Schar von “Best Agern” um uns herum. Kategorie: Pensionierte Oberstudienräte. Aber auch eine Gruppe von fünf Jungs mit Bierflaschen in der Hand – wir erinnern uns: es ist neun Uhr morgens – schließt sich dem Tross der fröhlichen Brocken-Wanderer an. Ist ja fast wie in Berlin hier!
Schnell setzen wir uns von den anderen Naturfreunden ab und wandern von nun an erst einmal wieder auf einsamen Wegen. 1824 soll der Dichter Heinrich Heine auf ebendiesen Pfaden durch den Nationalpark Harz gewandelt sein. Ob es tatschlich dieser Weg war, auf dem wir es ihm nun gleich tun, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall trägt er seinen Namen: Der Heinrich Heine Weg. Knapp 12 Kilometer lang mit insgesamt 800 Höhenmetern, die es zu bewältigen gilt, bei bis zu 15 Grad Gefälle und einem Temperaturunterschied von durchschnittlich 10 Grad. Hach, wir freuen uns!
Die Bäume des Waldes - ich ging einher, bekränzt, als ob ich der Sieger wär!
- Heinrich Heine -“Das ist nun die Ilse, die liebliche, süße Ilse”, schrieb Heine später über seine Harzreise. Die Ilse ist ein Bach, dem auch wir eine ganze Weile folgen. Dann lichtet sich der Wald. Wir wandern weiter durch eine Heidelandschaft. Um uns herum sitzen immer wieder picknickende Familien am Wegesrand (mit Sicherheit ist unter den anwesenden Müttern mit Tupperdose in der Hand auch die ein oder andere Ilse). Mountainbiker – vornehmlich überraschend rüstige Rentner und ehrgeizige Sportskanonen, Typ gestresster Manager – überholen uns. Und auch die Jungs treffen wir wieder (sie haben den kurzen Weg über die Forststraße genommen), das Bier ist inzwischen leer. Vor uns erhebt sich nun erstmals unser aller Ziel für diesen Tag: Der Brocken.
Es folgt ab Kilometer 8 der bereits angekündigte Abschnitt mit 15% Gefälle. Rund 3 Kilometer schlängelt sich der so genannte Hirtenstieg in die Höhe, der eigentliche Aufstieg zum Brocken. Ein ehemaliger Grenzstreifen noch aus Zeiten der DDR.
Zum letzten Wegabschnitt ist übrigens folgende Aussage von Kollege Heine überliefert: “Wenn man die obere Hälfte des Brockens besteigt, muss man an die deutsche Nationaltragödie von Dr. Faust denken. Ich glaube, auch Mephisto muss mit Mühe Atem holen, wenn er seinen Lieblingsberg ersteigt, es ist ein äußerst erschöpfender Weg und ich war froh, als ich endlich das langersehnte Brockenhaus zu Gesicht bekam.”
Nach knapp drei Stunden erreichen wir ein wenig erschöpft das Hochplateau mit der berühmten Wetterstation. Der Wind pfeift uns um die Ohren und über den so genannten Hexentanzplatz…
Ene, mene, Quedlinburg…
Wo wir schon bei Mephisto und den Hexen sind. Allerlei düstere Gestalten scheinen sich im Harz recht wohl gefühlt zu haben (und vielleicht sind sie ja auch immer noch umtriebig). Nicht zuletzt deshalb waren auch die Gebrüder Grimm häufiger im Harz unterwegs, um sich Inspiration für die ein oder andere Erzählung zu holen. Tatsächlich fühlt man sich manchmal wie in einer mittelalterlichen Sagen-Welt. Nicht nur in den Wäldern rund um den Brocken, sondern auch, wenn man die idyllischen Dörfer rund um den Nationalpark besucht. Unsere Unterkunft beispielsweise lag in Quedlinburg. Im historischen Stadtkern ist ein Fachwerkhäuschen schiefer als das nächste. Bronzestatuen setzen den Dichtern und Denkern vergangener Tage ein Denkmal. Die Straßen hier heißen “Hölle” und “Pölle”. Und auch die ein oder andere Hexe lacht uns aus den Schaufenstern lokaler Handwerksbetriebe entgegen. Spätetestens jetzt verstehen wir, woher das Bild vom mystischen, beinahe düsteren und etwas verwunschenen Deutschland kommt. Ein Märchenland.
Von den Hexen und Teufeln im Harz
Aber es geht noch besser. Gleich vor den Toren von Quedlinburg erhebt sich eine geologische Besonderheit: Die Teufelsmauer. Der Erzählung nach stritten sich Gott und Teufel um den Besitz der Erde; sie einigten sich, Gott sollte das fruchtbare Flachland behalten, der Teufel aber das erzhaltige Harzgebirge bekommen, wenn er bis zum ersten Hahnenschrei eine Grenzmauer fertig baut. Und er baute… Als noch ein Stein fehlte, krähte der Hahn. Die Arbeit war vergeblich und die Mauer stürzte zusammen.
Was von diesem ehrgeizigen Bauvorhaben übrig geblieben ist, ist durchaus beeindruckend und ein ausgedehnter Spaziergang entlang der 20 Kilometer langen Sandstein-Mauer über die Hügel und Felder des Harzer Vorlands lohnt sich. Im dämmernden Herbstlicht fühlt man sich ein klein wenig wie in Blair Whitch Project… “Keanu, Jeany… kommt wech da. Wech von die Mauer!” reißt uns eine hysterische Frauenstimme aus unserer mystisch-gruseligen Halloween-Stimmung. Zwei aufgekratzte Harzer Satansbraten klettern neben uns auf der Mauer herum. So viel zum Thema Stadtflucht. Wir stellen ernüchtert fest: Berlin ist einfach überall.
Auch wenn man der Zivilisation nicht immer entkommt, so ein Wochenende out of office beziehungsweise out of town ist und bleibt Balsam für die Seele. Oder, um es ein letztes Mal mit den Worten von Heine zu sagen: “Lebet wohl, ihr glatten Säle! Glatte Herren, glatte Frauen! Auf die Berge will ich steigen, lachend auf euch niederschauen.” Wir fahren am Sonntagnachmittag in jedem Fall mit einem Lächeln im Gesicht, erholt und entspannt – und zugegebenermaßen auch mit etwas Muskelkater in den Beinen – zurück in die Hauptstadt. Bis zum nächsten Wochenende… Dann geht es übrigens an die Ostsee!
In einem Meer aus Dünen |
schrieb am[…] oder später erwischt. Wie zuletzt berichtet klappt das beispielsweise ganz hervorragend bei einer Wanderung im Harz oder auch zu früher Morgenstunde an Brandenburgs Seen. Unser jüngster Herbst-Ausflug führte uns […]